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Montag, 9. Juni 2008

"Teepause"





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"Teepause"

Weit im Hintergrund ganz unsichtbar unter einem blauen Himmel, der an einigen Stellen wie ein staubiges Tuch eingetrübt war, lag Marrakesch. Weit vor ihnen hoben sich vor der grau-roten Hügellandschaft die Häuserreihen einer Ortschaft ab, konturenlos wie Nebelschwaden. 

"Lass uns doch in das Dorf spazieren und eine Teepause machen!", schlug sie vor und beschleunigte ihre Schritte, die Aussicht den Spaziergang mit einem angenehmen Ziel zu krönen war verlockend.
"Was willst du dort, da ist nichts!", antwortete er, "Zu weit, das ist viel zu weit!"
Ein Mann ritt mit einem Eselkarren an ihnen vorbei. Ein Pferdewagen kam hinterher, zwei Männer auf dem Kutschbock, zwei auf Säcken im Wagen. Riesenhafte Kakteenzäune verbargen Gärten mit Olivenbäumen und unbearbeiteten Gemüsebeeten. Zwei Frauen, ihre Haare unter einem Kopftuch verborgen, hackten Rinnen in den trockenen Boden. Sie winkten, sie lachten. 
Vorbei an den Gärten konnte man in der Ferne eine Hotelanlage erkennen. Sie war eine von einer hohen Mauer umgebene Oase mit riesigen Palmen, lag da mitten in der Landschaft, mit Tor und Einfahrt, trutzig, unter Verschluss. Der Weg schlängelte sich an Steinhaufen und einem Haus mit einer riesigen Satellitenanlage und einem Antennenmasten vorbei. Über der Tür des Hauses hing eine Wolldecke.
 

Als sie den Gipfel einer Anhöhe erreichten, entrollte sich vor ihnen eine kleine Ebene mit einem Fußballfeld und das Dorf dahinter war auf einmal nicht mehr so weit weg. Der steinige Weg meanderte in die weit auslaufende Senke hinein und stieg dann zu den ersten Häuserreihen in der Ferne hin. Auf dem Fußballplatz, der eher ein Bolzplatz war, spielten Kinder. Es waren Jungen. Zwanzig vielleicht, vielleicht mehr. Das rote Ding, das von weitem wie ein ovaler Plastikklumpen aussah, war ein Ball. Die Luft war raus. Es war schwierig damit ordentlich zu schießen, aber es schien die Gruppe nicht weiter an ihrem Spiel zu hindern. 
Der Weg gabelte sich plötzlich. Nach rechts ging es weiter auf den Ort zu, der linke Pfad, ein wenig schmäler, führte am Fußballplatz entlang nach hinten und wohl wieder im großen Bogen dorthin zurück, von wo sie aufgebrochen waren. Die Sonne stand schon tief in ihrem Rücken.
Es ist der 31. Dezember. Ein Feiertag, dachte die Frau, da bereiten sich die Eltern auf den langen Abend mit Familie und Freunden vor, in der lauen Abendluft genießen die Kinder den freien Tag. Nachher werden sie staubig nach Hause kommen. Sie werden zusammen essen. Vielleicht werden sie Spiele spielen, oder tanzen. Sie würde gerne wissen, wie die Familien das Neujahrsfest feiern. Sicherlich hatten sie eine Torte gekauft oder selbst gebacken. Sicherlich würde alles sehr festlich sein. Ob die Kinder hier direkt im Ort in die Schule gingen? Vielleicht könnte sie eines der Kinder ausfragen. 
An einer Stelle näherte sich der Pfad dem Platz, dort könnte sie stehen bleiben und dem Spiel zusehen und vielleicht den einen oder anderen Jungen in ein Gespräch verwickeln.
Der Mann beschleunigte seine Schritte und bog nach links ab.
"Es wird bald dunkel, das ist mir zu ungewiss!", rief er.
"Ach, komm, in dem Ort ist bestimmt ein Gasthof, eine Teestube, ich bin neugierig."
"Du kannst ja gehen," sagte er, "wenn du unbedingt willst, ich gehe zurück!" 
Ungläubig schaute sie ihn an: "Das meinst du doch nicht im Ernst?"
"Doch!", sagte er freundlich, "Da ist nichts, glaub mir, ein kleiner Flecken, nicht einmal ein Markt!"
Ungehalten stöhnte sie auf: "Woher willst du denn das wissen? Ich sehe eine Moschee! Das sieht doch verlockend aus!"
Er ließ sich von seinem Vorhaben nicht abbringen, langsam folgte er dem Pfad nach links. Während des Gesprächs hatten sich aus der Gruppe der spielenden Kinder einige gelöst und waren über den Platz herüber zum Weg gekommen. Sie rannten oder hüpften, sie riefen etwas, sie schrien. Einer, in zerlumpter Hose mit einem viel zu großen T-Shirt, dessen Säume aufgelöst waren, kam auf sie zu. Er hatte eine schwarze Maske aus zerfleddertem Pappmaschee in der Hand, hielt sie sich vor das Gesicht, sprang wild gestikulierend vor ihr auf und ab und schrie etwas auf Arabisch. Ein Neujahrsbrauch, fuhr es ihr durch den Kopf. Trick or Treat. Wie dumm, sie hatte nichts dabei, gar nichts, keine Süßigkeiten, kein Kleingeld, keine Kugelschreiber. Nichts, was sie dem Jungen hätte geben können. Nur das Handy und die Scheckkarte in der Handtasche, ein Taschentuch und einige Prospekte von Restaurants in Marrakesch.
Sie sah sich nach ihrem Mann um, der war schon weiter gegangen, langsam, beständig. Er hatte das Kleingeld. Warum blieb er nicht stehen und wartete? 
Der Junge rief etwas, er sprang auf und ab und stieß bedrohliche Laute aus. Eine peinliche Situation, dachte die Frau, lächelte freundlich und sagte entschlossen: "Merci!" In diesem Augenblick wandte sich der Junge zu seinen Kameraden um und so als wolle er ihnen von seinem Misserfolg berichten, schrie er ihnen etwas zu. Darauf johlten sie und rannten alle heran. Sie versammelten sich in lockerer Gruppierung um die Frau herum. Ihr Kreis wurde immer enger. Sie fragte, ob sie Französisch sprächen. Sie erhielt nur Lachen und Pfeifen als Antwort. Häme? Aber warum. Weil sie dem Jungen für seinen kurzen Auftritt mit der Maske nichts gegeben hatte? Sie hörte einen einzelnen Pfiff, dann einen Schrei. Der kaputte rote Plastikball flog in hohem Bogen an ihr vorbei.
Sie hielt nach ihrem Mann Ausschau, er war beständig weitergegangen, sie sah die große, wuchtige Gestalt gegen den Himmel die Anhöhe hinaufwachsen. Er machte immer noch keinerlei Anstalten auf sie zu warten. Er hatte offensichtlich nichts bemerkt.
Wenn die Jungen auch alle etwa gleich alt zu sein schienen, zwischen zehn und zwölf, höchstens dreizehn, so waren sie doch sehr unterschiedlich an Größe, Hautfarbe und Kleidung. Auch ihre Haare waren verschieden, von schulterlang gewelltem, schwarz-glänzendem Haar, bis zum rauen, struppigen hellbraunen Krausekopf. Sie waren alle drahtig, sehnig, knochig. Selbst die größeren gingen ihr kaum bis zur Schulter. Kinder. Von Feiertagsoutfit war nichts zu sehen, sie trugen zerlumpte Klamotten, teils abgetragene, viel zu große Hosen ohne Gürtel und Knöpfen, die Reißverschlüsse herausgerissen, offene Nähte. Aufgerissene Hemden oder T-Shirts, mit verblichenen Aufdrucken. Zerschlissene Turnschuhe, Lederschuhe, Stiefel. Gesichter, Arme und Hände waren ebenso wie die Kleidung durch das Spiel auf dem Feld mit Staub und erdigem Schmutz übersät. 

Es war ein malerisches Bild, ein Bunt mit einer sanften Patina, in rötliches Braun getaucht, wie der Boden, darüber der sich verdunkelnde tiefblaue Himmel. Wäre nicht dieses hämische Johlen gewesen, sie hätte die Bande für einen etwas wilden aber keineswegs unsympathischen Haufen gehalten. Sie hätte innerlich gejubelt aus Freude über dieses eindrucksvolle, farbenprächtige Bild. Sie hätte die Möglichkeit, mit ihnen reden zu können, mit Begeisterung ergriffen.
Jetzt war sie gehemmt, verunsichert. 
Ein Junge, der älter wirkte als die anderen und ihr gleich durch seine faltige, verhärmte Haut aufgefallen war, rief einen weiter abseits stehenden Jungen herbei. Er wartete auf ihn und stieß ihn dann vor sich her in den Kreis. Während sie das sonderbare Duo herannahen sah, fing sie Blick und Mienenspiel des größeren Jungen auf. Sie hörte, wie er, indem er sich wieder hinter dem anderen zu verstecken versuchte, mit aggressivem Unterton rief: „On va les t... tous, les Francais! On va les tous t...!“
Verwirrt schaute die Frau in die Runde. Hatte sie richtig gehört? War sie durch das klangliche Durcheinander der vielen fremden Laute einer Täuschung erlegen? Hatte sie arabischen Klängen die Bedeutung von französischen Worten zugeordnet? 
Welches Spiel begann ihr Verstand mit ihr zu spielen? 
„On va les t...“ 
Mein Gott, dachte sie, « Wir werden alle umbringen, wir werden sie alle töten! » 
Wie war es ihr gelungen ausgerechnet diesen Satz aus dem Klanggewirr, das sie umgab, zu entschlüsseln? Es musste ein Irrtum sein! Sie suchte den Jungen, der ihn gerufen hatte, konnte ihn aber nicht mehr entdecken. Die Gruppe, die sich jetzt vor, neben und hinter ihr aufbaute, hatte ihn verschluckt. Sie drehte sich im Kreis. Sie bemerkte, dass sie unruhig wurde. Sie war umringt und konnte niemals alle gleichzeitig im Blick haben. Ihre Kraft schien zu schwinden, ihre Selbstsicherheit schien sich aufzulösen. Als sie „Hallo!“ zu einem Jungen vor sich sagte, da sah sie, dass er sich kopfschüttelnd abwandte und als sie ihrer Stimme nachlauschte, da merkte sie, dass sie schrill-krächzend und zitterig gewesen war.
Sie spürte, dass nichts so war, wie sie es erwartet hatte, wie sie es gewohnt war.Sie versuchte ihren Weg wieder aufzunehmen. Ganz ruhig, einfach weitergehen, langsam den Abstand zwischen sich und ihrem Mann wieder verringern! Die Jungen riefen sich gegenseitig etwas zu, gestikulierten, sie winkten andere, weiter weg stehende heran. Es wurden immer mehr. Der Kreis wurde immer enger. Ein Weitergehen war nicht möglich. Der Weg vor ihr war verstellt. Die Mienen der Jungen waren fragend, abwartend. Es war, als versuchten sie sich gegenseitig zu positionieren. Wer war in diesem Rudel der Anführer?Suchend sah sie sich um. Da waren keine Erwachsenen, keine Passanten, nicht einmal ein Eselkarren. Weit und breit war niemand zu sehen, außer der langsam kleiner werdenden Silhouette ihres Mannes, der unverdrossen weiter den Heimweg verfolgte. 
Ihre Gedanken überschlugen sich. Dort lag das mit einem Mal gar nicht mehr verlockende Dorf mit dem grau-grauen Aufriss der Häuser vor dem düsterer werdenden Hintergrund, dann irgendwo weit im Südwesten Marrakesch, nur über eine halbstündige Autofahrt zu erreichen. Gleich hier hinter der Anhöhe waren die von Mauern umgebenen Unterkünfte der Touristen, die Villen und Hotels, und auch das zauberhaft pseudo-orientalische Schlösschen, in welchem sie seit einigen Tagen wohnte. Sie selber war in der Einöde, mitten im Palmenhain, außerhalb der Mauern, deren Videoüberwachung das Innere nicht das Äußere schützte. Außer Rufweite. Allein.
Die über das Feld huschenden schwarzen Schatten der Kinder verdichteten das Bild.Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie sich in einem Kreis von Kindern befand, denen die Armut den Ton diktierte. Die bitterlichste Armut war die, die genau am Rande des Reichtums dahinvegetierte. Armut, die dem äußersten Reichtum der Oase, mit dem täglich bewässerten Golfplatz hinter den Mauern hautnah ausgesetzt war, wo der nachmittägliche Golfkurs für einen Touristen so viel kostete wie der Lohn, den der Vater für die Familie in einem Monat nicht erarbeiteten konnte. 

Reichtum, der die bloße Gegenwart dieser Kinder verachtete, der sie wie widerliche Schmeißfliegen wegscheuchte, wenn sie aus Neugierde vielleicht zu nah an die Mauer gegangen waren, oder versucht hatten durch die Zäune, die Tore zu spähen um zu sehen, was sich denn dort zutrug, an dem verbotenen Ort. Reichtum, der sich in ihre Umwelt hineinpflanzte und die Werte verschob, der ihnen die Würde nahm, bevor sie noch angefangen hatten die Welt als achtbare Größe und sich selbst als liebenswerte Wesen zu erkennen.Die Freiheit und Weite des Horizonts standen ihnen zur Verfügung. Darin jedoch war nichts als die armselige Perspektive der wasserlosen Wüstenei, und ein Ball aus Plastik, aus dem die Luft raus war.
Die Frau spürte das Gefühl von Unbehagen anwachsen. Dazu Unsicherheit. Sie würde nicht wegrennen, sie würde ihnen fest in die Augen schauen. Sie würde versuchen mit ihnen zu reden. Das Gespräch musste gelingen! Die wenigen Worte in französischer Sprache, die sie gehört hatte, waren der Beweis, dass mindestens einer von ihnen dieser Sprache mächtig war. Und selbst wenn sie ihre Worte nicht gänzlich verstanden, so würden sie durch die ruhige Rede Vertrauen gewinnen, einsichtig werden, vielleicht das Interesse an ihr verlieren und sich wieder ihrem Spiel zuwenden und die Unterbrechung vergessen. 
Doch als sie anfing zu sprechen, als sie langsam erklärte, dass sie eine Touristin aus Deutschland war, die sich nur für einige Tage in Marokko aufhielt, dass es ein sehr schönes Land war, das sie gerne noch näher kennen lernen würde: „Je voudrais savoir beaucoup plus de votre beau pays!“, da sah sie in verständnislos grinsende Gesichter.Das kann nicht sein, dachte sie. Sie hatte sich doch gerade noch wohl gefühlt, sicher. Keinen Augenblick hatte sie das Gefühl gehabt nicht in Sicherheit zu sein. Mit Schaudern dachte sie an den Überfall einer befreundeten Familie in New York, die man in eine Seitengasse abgedrängt hatte um ihnen die Kamera abzunehmen und um sie ohne Schuhe und Tasche wieder zu entlassen. Oder an die Berichte, die sie über Touristen in Russland gelesen hatte, die verloren gingen und Wochen später halbverwest und nackt auf Abfallhaufen wiedergefunden worden waren. Hier war es nicht so. Sie war hier bis jetzt nur freundlichen Menschen begegnet. Sie schaute dem nächsten Kind in die Augen, zwinkerte aufmunternd und machte sich wieder auf den Weg, Schritt für Schritt, in die Richtung, die ihr Mann genommen hatte. Von ihm war nichts mehr zu sehen. 
Sie redete weiter, in bewusst heiterem, nebensächlichen Ton. Sie versuchte gelassen zu sein, gelassen zu erzählen. Sie erzählte, dass die Kinder in Deutschland auch Fußball spielten, sie erwähnte „Bayern München!“ 
Ein "Hoho" war zu hören: "Ah! Oui, oui!" 
Klatschen, Johlen, das war alles.Warum gelang es ihr nicht Sympathie zu schaffen, sich verständlich zu machen? Selbst ihre Stimme, der sie ganz bewusst wieder einen ruhigen, freundlichen Ton gegeben hatte, wenn auch bemüht, hatte keinerlei Eindruck hinterlassen, ihr Versuch, den Kindern in die Augen zu sehen, Kontakt aufzunehmen, sich als Person, als freundliche Erwachsene darzustellen war im Nichts versandet. Keines der Signale, die sie aussandte, wurde erkannt. Sie fühlte plötzlich absolute Ohnmacht. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie in ein Bühnenstück, mit einem vorgefassten, fertigen Drehbuch geraten, mitten auf die Bühne, hinein in ein Stück, das alle kannten, nur sie nicht. All ihr Bemühen, all ihre verzweifelten Versuche sich durch Reden zu retten, waren ein lächerliches, sinnloses Unterfangen. Gedanken begannen wirr durch ihren Kopf zu rasen. 
Was war hier nur falsch gelaufen? An welchem Punkt war der Umschwung gewesen? War die Aggression von Anfang an da gewesen? War ihr Spaziergang als westliche Frau, hier durch diese Einöde, im Niemandsland zwischen den Ferienvillen und dem Dorf, schon Anlass genug für diesen Angriff? Konnte man das Abwenden ihres Mannes so deuten, dass er sie bewusst zurück lassen wollte, dass er sie nicht beschützen wollte, weil es sich nicht lohnte, sie zu beschützen. Er überließ sie ihnen, er hatte sie ausgesetzt? 
Hatte die Tatsache, dass sie eine unverhüllte, westliche Frau war, einen längst schwelenden Hass zum Entflammen gebracht? Ihre Gedanken begannen zu schlingern. Sie durfte nicht die Haltung verlieren. Sie musste zeigen, dass sie arglos und freundlich war. Jemand, der die Aggression nicht verdiente, jemand, der sich durch ihre Angriffe nicht aus der Fassung bringen ließ.
In diesem Augenblick spürte sie, dass ihr jemand von hinten an den Griff der Handtasche fasste. Sie drehte sich erschrocken um. Die Jungs hinter ihr hüpften mit hochgereckten Armen und affigen Bewegungen hin und her und auf und ab, so dass sie nicht ausmachen konnte, wer von ihnen es gewesen war. Da kam die nächste Berührung. Dann noch eine. Am Ärmel, an der Jacke, an der Tasche. Sie drehte sich hastig im Kreis und schrie : "Ne me touchez pas, je vous dis, ne me touchez pas!" Der Kreis um sie lockerte sich nur für einen winzigen Augenblick, dann waberten sie wieder enger heran. Unter dem Schutz des jeweilig anderen, kamen sie wieder näher, bis sich ihr Mut selbstständig machte, und sie wieder nach ihr griffen. Nach den Falten ihrer Kleidung, nach der Tasche. Ein Zupfen, ein kleines Ziehen, am Ärmel, am Saum der Jacke. Es tat nicht weh. Sie waren nur eben da diese kleinen Berührungen, von hinten, an ihrem Halstuch, an ihrem Haar, am Jackenkragen, von der Seite an ihrem Arm, an der Handtasche. Es waren viele.
Sie wurde wütend und mit einem Mal spürte sie ein für sie völlig ungewohntes Gefühl: Angst.
"Qu'est-ce que c'est que vous voulez?"- Was wollt Ihr!- „Je vous ai déjà dis - je n’ai rien, absolument rien!“ Ich habe es euch doch gesagt, ich habe nichts, absolut nichts! „C’est dommage!“ Schade! - rief sie und als sie wieder am Arm berührt wurde, verlor sie die Fassung und schlug nach der Hand des Jungen. 
Die Situation schien zu eskalieren. 
Sie kamen näher, ganz nahe.
„Je vous prie de me laisser!“, schrie sie hysterisch, „Ne me touchez pas!“ 
Dann riss sie ihr Handy aus der Jackentasche, hielt es hoch und rief, "Je vais appeler la police!" - Ich werde die Polizei anrufen! -
Sie spürte, wie sich Tränen hinter ihren Augäpfeln aufstauten, was war das nur für eine Situation? Diese hysterische, mit schriller Stimme hervorgestoßene Drohung hatte eine unerwartete Wirkung: Sie erzeugte ausufernde Heiterkeit! Alle kamen nach vorne, sie klatschten in die Hände und während ihr Mund zu lachen schien, so waren ihre Blicke kalt. Und wenn sie auch nichts verstand, so hörte sie doch, dass es Schmährufe waren, voller Verhöhnung und Aggression. Sie spürte, dass sie zu rufen schienen. „Ah, die Polizei willst du holen! Die Polizei! Ja, super! Wofür denn, du dumme Kuh! Was haben wir dir denn getan? Was wirfst du uns denn vor? Ja, hol sie doch, die Polizei, mach doch, mach doch, nur zu!“
Voll daneben. Völlig überzogen. Ich habe lächerlich und hysterisch reagiert, dachte sie noch, zwing dich zum ruhigen Atmen. Gehe einfach um die Gruppe herum, beginne zu gehen, schau niemandem mehr in die Augen, und beginne zu gehen. Sie machte einige Schritte, versuchte gerade neue Entschlossenheit in ihre Haltung zu legen, als sie an der Schulter festgehalten wurde, und als sie versuchte die Hand abzuschütteln, da griff eine andere Hand nach ihrem Ellbogen und hielt sie fest.Gedankenfetzen durchzuckten sie, sie sah sich rennen, sah sich stolpern, hörte sich winseln, spürte, wie Zähne sich in ihren Körper bohrten, an ihm rissen und sie zerfleischten. Sie waren wie ein Rudel junger Wölfe, die ihre plötzliche Macht an ihr übten und nicht loslassen wollten. 
Sie spürte Wut und Tränen wegen ihrer Unfähigkeit sich bemerkbar zu machen, wegen ihrer Machtlosigkeit, ihrer kraftlosen Lächerlichkeit. Angst, weil sie nicht wusste, wie lang sie noch aufrecht weiter gehen würde, bis sie ins Straucheln geriete und wirklich ausgeliefert wäre.
Da hörte sie in der Ferne ein Rufen, es war eine kreischende, männliche Stimme. 
Ein Jugendlicher, kaum der Pubertät entwachsen, kam schreiend auf die Gruppe zugerannt. Er war völlig außer sich, er war atemlos. „Madame, Madame!“, schrie er, „Madame, allez, allez!“ Der junge Mann schlug nach den Kindern, er versuchte einen nach dem anderen gewaltsam wegzuscheuchen. Aber es waren so viele! Sie fühlte, wie die Aussichtslosigkeit ihre Kehle zuschnürte, da sah sie einen großen Stein in der Hand des Jungen, und sah, wie er brüllend mit dem Stein nach den Körpern der Kinder schlug. 
„Non, non!“, rief sie und gab ihm mit Gesten zu verstehen, dass er den Stein wegwerfen solle, „Laissez la pierre! Non, pas la pierre ! » 
Alle schrieen, die Kinder schrieen, der junge Mann schrie, es war ein wildes Chaos, die Berührungen hörten auf, der Kreis öffnete sich, die Kinder wichen zurück. 
Der junge Mann war völlig außer sich, Schweiß strömte über sein Gesicht, er kämpfte mit kräftigen Schlägen gegen die Kinder, die sich wütend gegen ihn wandten.
„Je vous remercie beaucoup, mais pas la pierre, pas avec la pierre !“ - Nicht mit dem Stein!-, hörte sie sich rufen, aber sie sah, dass es einzig seine wehrhafte Bedrohlichkeit war, die den Jungen Respekt einflößte und sie zum Rückzug zwang. 
Mit zitternden Knien nahm sie ihren Weg wieder auf. Schritt für Schritt, mit erzwungener Gelassenheit ging sie los, ohne sich noch einmal umzudrehen und hörte noch lange das Kreischen, Johlen, das Pfeifen und Schimpfen.
„Du hast dich doch entschlossen keine Teepause zu machen! Da bin ich aber froh!“, sagte ihr Mann, als sie ihn erreichte und als sie ihm nicht antwortete, fügte er mit spöttischem Unterton hinzu, „Die hast du ja mächtig beeindruckt, meine Liebe!“
Nach einer Weile blieb er stehen und wandte sich um: „Hast du die Gräben da hinten bemerkt? Sie verlegen Wasserrohre und Stromleitungen, ich glaube, das Fußballfeld wird einer neuen Anlage weichen.“ Ihre Knie zitterten immer noch. Nein, die Gräben hatte sie nicht bemerkt.

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