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LadyArts Geschichten

Montag, 24. Januar 2011

...ankunft in wien...






...bin in wien angekommen, bei der nacht. es ist bitterkalt, frost durchzieht mich, ich fühle mich elend und verloren. vom bahnhof fahre ich mit dem taxi nach "hietzing", da ist die wohnung meiner verwandten, am XXXplatz, wenige meter neben dem EKZ solle ich nur den durchgang nehmen und dann geradeaus, etwa hundert meter auf der rechten seite, ich könne es nicht verfehlen.
der taxifahrer hat mich wortlos abgesetzt.
nun stehe ich da mit klopfendem herzen und einer erwartungsvollen spannung.  meine einzige verwandte in wien ist gestorben, am kommenden tag wird die beerdigung sein. mir ist etwas übel, ich habe hunger und durst und fühle mich benommen, alles ist ein wenig viel mit einem mal, denke ich, und ich frage mich erneut, ob es wirklich so eine gute idee war hier her zu fahren. aber, die letzte ehre, sie ist es doch, die ich ihr entgegen bringen will. wenn wir schon im leben keinen kontakt hatten, so will ich ihr doch im tode wenigstens zeigen, dass meine einst kindliche verehrung für die in der ferne langsam immer fremder gewordene freundin, trotzdem unvermindert bestand gehabt hatte.
gleich werde ich die verwandten treffen, die alle von weit her gereist sind, die ich jedoch schon viel zu lange nicht gesehen habe um auch nur einen hauch an vertrautheit oder so etwas wie wiedersehensfreude zu empfinden...
ich weiß, ich fürchte mich. auch die umstände des todes sind so traurig, dass man weinen könnte. so halte ich die tränen mühsam zurück und versuche auch meinen atem im zaum zu halten.
mein gepäck besteht aus einem winzigen reisekoffer und einer handtasche.
 ich stehe im kegel künstlicher lichter mitten auf dem platz und drehe mich im kreis - ich bin seit meiner kindheit nicht mehr in wien gewesen, nur noch als durchreisende mit dem zug in richtung pressburg oder budapest. aus irgendwelchen gründen hat es sich einfach nicht ergeben die plätze und menschen meiner kindheit wieder aufzusuchen. unsere leben waren auseinander gedriftet und an verschiedenen orten weitergegangen ohne wieder bezug zu einander zu nehmen.
nun drehe ich mich an diesem platz mitten in hietzing herum und lausche in die stadtgeräusche hinein, tief in mir rauscht aber immer noch das rhythmische monotone brummen des zuges. den letzten teil der reise habe ich tief geschlafen und irgendwie ist die unsicherheit in meinem körper noch so, als sei ich aus diesem schlaf nicht wirklich aufgewacht...
wo gehe ich jetzt hin. wie finde ich meinen weg. meine knie zittern. ah, da ist ein gasthaus, da werde ich hineingehen, mich ein wenig beruhigen, ich werde mir eine kleinigkeit zu essen und zu trinken bestellen und dabei nach dem weg fragen. so werde ich kraft tanken und nicht so verhungert bei den verwandten hineinschneien, die, wer mag es wissen, vielleicht sogar nur noch eine notwache für die späten gäste eingerichtet haben. was weiß ich schon.
ich überquere den platz und steige die treppe hinauf zum lokal. die meisten tische sind besetzt, es herrscht eine angeregte atmosphäre. als ich mich an der bar niederlasse, kommt auch gleich der kellner und nimmt meine bestellung auf. leider gibt es nichts mehr zu essen, da sei ich viel zu spät dran, sagt er, aber zu trinken könne ich schon etwas haben. natürlich, einen wein, ein bier, was immer ich wolle. während ich nachdenke, beginnen drei männer, die auch an der bar sitzen, meine nachdenklichkeit zu diskutieren.
ja, das ist ja wohl net so schwer, sich zu entscheiden, was man trinken wolle, aber an der stimme hätten sie ja sowieso schon gleich gemerkt, dass ich fremd sei, aus deutschland.
es geht eine sonderbare diskussion los. ich lächle etwas unbeholfen in ihre richtung, tue aber ansonsten nichts, was sie einladen könnte weiter mit mir reden zu wollen. mir ist nicht nach kontaktaufnahme. ich nehme mir vor die herren zu ignorieren. ich bestelle ein bier. ah, ein bier bestellt sie, na so was, das hätte er jetzt nicht gedacht, sagt der eine, er hätte auf wein getippt, aber das sei ja wieder typisch, vom guten wein aus dem schönen oberösterreich hätten die deutschen natürlich keine ahnung.... und auch jetzt spricht er laut und deutlich, auch die leute an den ersten tischen um uns herum blicken her, schauen auf mein bier und auf mich, auf meine reisetasche und es scheint so, als sei sein kommentar etwas, was so durchaus üblich ist. ich nippe verlegen an meinem bier.
schmeckt wohl nicht, sagt der eine, hab ich gleich gesagt, das schmeckt ihr nicht, hätt sie doch wein trinken sollen. kommt in der nacht ins lokal und kriegt das maul nicht auf. na arrogant ist sie wohl gar nicht.
so geht es weiter. meine verunsicherung nimmt zu, das zittern meiner knie hat sich auch verstärkt, der alkohol schießt mir in den kopf und ich bin mir sicher, dass ich dieses bier nicht austrinken werde. ich werde mich lieber gleich wieder auf den weg machen. auch mein wunsch jetzt schon zu zahlen wird heftig zur kenntnis genommen. er hätte doch gedacht, dass ich noch ein wenig bliebe, aber ich kriege ja kaum die zähne auseinander, da können sie auch ganz gut auf mich verzichten... ich denke ich höre nicht recht. was habe ich ihnen denn getan, was an mir, an meiner eleganten, schwarzen winterkleidung gibt anlass, mich so zum objekt ihres spottes hinzubiegen. ich lächle unsicher, steige von meinem barhocker runter, nehme mein gepäck, knöpfe meine jacke zu und will gehen. da wende ich mich schnell noch einmal dem kellner zu und schiebe ihm meinen kleinen plan hin. Leise bitte ich ihn mir zu sagen, was denn unter EKZ zu verstehen sei. der platz hier sei schon richtig, aber ich muss ja am EKZ vorbei und ...
doch weiter komme ich nicht mehr. der mann, der auch vorher immer am lautesten war, schreit mit so einem einladenden ton los, dass das ganze lokal ohne umschweife den kopf in meine richtung wendet: „d i e   weiß ja nicht einmal was ein EKZ ist.  E K Z!!! na so blöd kann ja jetzt wohl niemand sein, ja, kommt die vom mond?“ die gäste im lokal lachen, sie lachen laut. mir steigt das blut in den kopf. der kellner deutet durch das große fenster auf die andere straßenseite, wo in riesigen lettern die buchstabenkombination  E K Z   über einem schaufenster prangt und lächelt etwas verlegen. als ich mit glühenden wangen völlig aufgelöst aus dem lokal stolpere, höre ich noch, wie sich das lachen der drei an der bar mit der allgemein gehobenen stimmung im lokal mischt und ich kann immer noch die worte dummheit, arroganz und mond deutlich heraushören.
auf der anderen straßenseite merke ich dann, dass EKZ eine abkürzung für einkaufszentrum ist und dass ich eigentlich wirklich nur wenige meter vom ziel entfernt bin. da ist unter einer laterne eine kleine bank, auf diese setze ich mich schnell und versuche mich erneut zu beruhigen. das ist also der auftakt zu einem ohnehin schon unseligen ereignis in wien, der stadt, die ich mir immer wie ein traumziel, wie etwas ganz besonders wertvolles aufgespart hatte...
alles kommt anders als man denkt.
was wird noch kommen, später, ich mag es gar nicht durchdenken. ich schließe meine augen und bleibe eine ganze weile auf dieser bank sitzen. viel zu lange. als ich heftig zu frieren beginne, spüre ich, dass meine knie nicht mehr zittern, auch meine wangen glühen nicht mehr, aber ein gefühl der absoluten lustlosigkeit hat sich in mir ausgebreitet und nur die tatsache, dass ich zu einem eisblock frieren würde, wenn ich weiter sitzen bliebe, zwingt mich die augen zu öffnen und um mich zu schauen. während ich da sitze, hat es zu schneien begonnen und ein zarter weißer schleier liegt jetzt über gehsteig und asphalt. die flocken fallen wilder.
langsam stehe ich auf, ich bin ganz steif. kein fußabdruck stört die makellose reinheit, auch ist eine sonderbare stille auf den platz gesunken, die grellen lichter des lokals auf der anderen seite sind abgemildert und alle bewegungen hinter der scheibe erscheinen seltsam unwirklich. ich blicke zurück auf die bank, die immerhin eine kurze zeit lang für mich halt und schutz bedeutet hat, und sehe, dass es die tänzelnden schneeflocken schon fast geschafft haben den abdruck meines körpers auf dem schwarzen holz in ahnungslosem weiß verschwinden zu lassen...




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Dienstag, 3. November 2009

...auf dem Stein sitzend (V)





Als ich an diesem Tag über meine dünnen Beine zu meinen Füßen hinunter sah, der Stein war spürbar hart unter mir, glaubte ich, unten, weit unten im Gras sonderbare Gebilde aus waberndem Grün zu sehen. Sie waren vernebelt und gestaltlos. Während ich sie betrachtete und mit Mühe den Zusammenhang zwischen den erlebten Ereignissen des Tages und diesen undefinierbaren Formen zu finden suchte, bemerkte ich etwas, das mich, obwohl es Teil meiner Fantasie für den Rest meines Lebens bleiben sollte, immer von Neuem mit großem Erstaunen erfüllte.

Die Gebilde waren Ausdruck eines Gefühls, das ich nicht benennen konnte. Sie umspielten den Grund unter mir, und suchten Kontakt zu meiner Haut. Wie um sich Gehör und Einlass zu verschaffen wuchsen sie um mich herum und mahnten mich endlich eine Bedeutung für sie zu finden, damit ich sie in mich aufnehmen könnte. Ich könnte sie mir auf den Leib legen oder sie einatmen, in mich und auf mich reiben. Dann erst würde ich sie kennen, so wie man einen Apfel kennt, dessen Herkunft einem vertraut und dessen Duft und Geschmack sich mit der Farbe und der Spannung seiner Schalenhaut als besonderer Wert schon sehr früh in das kindliche Bewusstsein gedrängt hat und dort festsitzt für den Rest der Zeit.
Was also war es diesmal gewesen, das sich als rätselhafte Erscheinung abgesondert hatte um als pilzartiger Bodensatz des Tages mein Unterbewusstsein zu unterspülen? Es war eine winzige Begebenheit gewesen, die aus Hast und Blicken bestand und eben diesem einen Satz.
Während ich gerade große Blätter in unterschiedlichen Farben sammelte und als bunte Fächer in meiner Hand drapiert hatte, hörte ich Stimmen. Laute, wütende Männerstimmen hallten aus der Passage. Dann kam mein Vater mit weit ausholenden Schritten herausgerannt. Er gestikulierte mit den Armen, rief laut: „Ha!“, blieb stehen und kratzte sich am Kopf. Sein Blick fiel auf mich und er sagte den Satz, von dem er wissen musste, dass ich ihn nicht verstand: „In Amt und Würden! Weißgott, aber von Würde keine Spur!“ Als er weg war, kam Herr Steiner, der Obmann, der über alle herrschte und vor dem alle zitterten, aus dem Tor, blieb auch stehen und verzog das Gesicht zu einer sonderbaren Fratze. Er sah sich um. Als er merkte, dass der Hof bis auf mich verwaist war, rotzte er sich mit Mittelfinger und Daumen der rechten Hand den Schleim aus der Nase. Er schleuderte ihn quer über den Platz, räusperte sich heftig und öffnete sich mit den feuchten Fingern die Hose. Dann ging er zur Kastanie, wo er, kaum zwei Meter von mir entfernt, sonderbar grinsend sein Geschäft erledigte.



Ausgeliefert.
Der bunte Herbstblattfächer

löchriger Schutzwall








Mittwoch, 27. Mai 2009

auf dem stein.. (I)


dieses spiel hatte ich von klein an gespielt. am ende eines tages, kurz vor dem einschlafen, setzte ich mich in gedanken auf einen stein, einen, der so hoch war, dass ich gerade noch hinaufklettern konnte, ohne mir beim runterrutschen weh zu tun und schaute herunter. Ich betrachtete mir das erlebte. die einzelnen szenen des tages öffneten sich in meinem kopf wie zimmer einer puppenstube in die ich von oben hineinblickte und die menschen, denen ich begegnet war, spielten mir zwanghaft im zeitraffer noch einmal alles vor. die blickwinkel waren verengt, und die gefühle, die ich beim ablauf mitten im ereignis und danach gehabt hatte, waren klebrige bänder, die mich mit dem erlebten verbanden und es bis heute an mir haften lassen.
aha, sagte ich dann also, dort sitzt anna und brüllt. anna war an dem tag meine kontrahentin im sandkasten gewesen. annas mutter war während des geschreis aus dem haus gelaufen und hatte nach langem hin und her schließlich die gewünschten sandförmchen herbeigeschafft. weil anna aus einer laune heraus nicht zufrieden gewesen war, hatte sie ihrer mutter sand ins gesicht geschmissen. ihre mutter war mit kläglichem gewimmer wieder verschwunden. die ist blöd, hatte anna geknurrt. das verstand ich nicht, denn meine mutter war nie blöd, schon gar nicht, wenn sie mir sandförmchen hinterhertrug. aber bei anna war das anders.
auf meinem stein sitzend, dachte ich an annas mutter. die war jetzt im haus und wartete darauf, wie der kuckuck aus der uhr hervorzuschießen, nur weil anna glaubte, dass es zeit dazu wäre. mehr als den kuckuck und die uhr konnte ich mir nicht vorstellen, weil ich doch noch ein kind war. aber das reichte schon, um eine gewisse monotonisierung im ablauf der welt zu erkennen. und weil das mit anna und mit barbara und mit peter ähnlich war, mit kleinen abwandlungen natürlich, (ramonas, kevins und michelles waren noch nicht geboren), prägte sich mir das bild der welt als ein habgierig schnappendes maul ein, das in die hand, die ihr futter gibt, hineinbeißt.


gleichmäßig pocht
im gehäuse das uhrwerk
in meinem kopf

Mittwoch, 25. Februar 2009

Hamam

"Hamam-Dampfbad"

Auf der Suche nach einer Toilette in einem alten Restaurant mitten im Souk, wo im großen Saal fast ausschließlich Männer sitzen, die ihren Thé à la Menthe trinken und sich angeregt aber leise unterhalten, folge ich einem Pfeil mit arabischem Schriftzug tief hinunter in einen düster vor mir liegenden Kellergang, an dessen Ende ich Licht sehe.
Ich gehe darauf zu.
Weit in der Ferne höre ich die Geräusche der Stadt. Dann plötzlich ein Knick im Gang.
Da ist Lachen, heiteres Frauenlachen. Ich halte zögernd inne, vor mir ist eine Schwingtür, die sowohl unten als auch oben mindestens zwei Handbreit offen ist.

In der Dunkelheit
Duft von Minze und Seife
Klänge ertasten

Feuchte Luft kommt mir entgegen. Vorsichtig drücke ich den rechten Türflügel nach innen auf und gehe mutig hinein. Vor mir öffnet sich ein riesiger Raum, mit leichtem Dampf, Wärme und Hitze. Wenige Meter vor mir sitzt eine junge Frau auf dem weiß gekachelten Boden, neben ihr eine ältere, die gerade dabei ist, die Nackte abzuseifen.

Es ist wie ein Bild von Ingres, "Die große Odaliske", nur, dass mich die Frau nicht ansieht und dass der Ort ein anderer ist. Kein mit reichen Kissen und Decken verziertes Bett, sondern ein kahler von unten her beheizter Fliesenboden in einem sonst verwaisten Dampfbad. Nichts ist romantisch und doch nicht minder faszinierend. Die feuchten Haare der Badenden sind in groben Wellen hochgesteckt, einige Strähnen fallen über ihre weißen Schultern herunter. Es ist ein Bild in weichem konturlosem Weiß, mit Dampfschwaden und Weiß und Weiß, aus dem die schwarzen Haare das einzige hervorstechende sind.

Glut in den Wangen
Ein verbotenes Gebiet
Neugier hält mich fest

Ich stehe in der Tür. Die beiden bemerken mich nicht, sie unterhalten sich weiter, lachen dabei und die intensive Körperpflege, die mich an meine Kinderzeit erinnert, als mich meine Mutter liebevoll geschrubbt hatte, kommt mir neidvoll in den Sinn. Ich verharre reglos. Dann sehen sie mich. Sie lachen erneut und  winken mir zu, ohne wirklich ihre Tätigkeit zu unterbrechen, ohne sich wegzudrehen, ohne den Versuch zu machen die Nackte zu verhüllen.
So stehe ich da, in meinen Straßenkleidern am Eingang des Hamams, denn da bin ich gelandet, gar nicht verlegen, denn alles scheint das Natürlichste auf der Welt, und frage nach der Toilette. Gleich draußen, nur zwei Türen weiter vorne,  ich sei zu weit gegangen. Sie lachen wieder! Ich solle doch bleiben, es sei gerade nicht viel los, sie seien auch gleich fertig, ich könne mich schon einmal ausziehen und mich bereit machen, es sei doch so ein wunderbarer ruhiger Tag, ich solle doch die Gelegenheit beim Schopf ergreifen: "Saisissez l'occasion, Madame!" - Ich lache auch, bedanke mich und winke zum Abschied.
Das Lächeln, das sich in mir ausbreitet, wird noch lange anhalten, das weiß ich...

In der Zinkwanne -
Mutters Lachen
auf der Suche nach dem Floh

©gabriele brunsch

Montag, 9. Juni 2008

"Teepause"





 .


"Teepause"

Weit im Hintergrund ganz unsichtbar unter einem blauen Himmel, der an einigen Stellen wie ein staubiges Tuch eingetrübt war, lag Marrakesch. Weit vor ihnen hoben sich vor der grau-roten Hügellandschaft die Häuserreihen einer Ortschaft ab, konturenlos wie Nebelschwaden. 

"Lass uns doch in das Dorf spazieren und eine Teepause machen!", schlug sie vor und beschleunigte ihre Schritte, die Aussicht den Spaziergang mit einem angenehmen Ziel zu krönen war verlockend.
"Was willst du dort, da ist nichts!", antwortete er, "Zu weit, das ist viel zu weit!"
Ein Mann ritt mit einem Eselkarren an ihnen vorbei. Ein Pferdewagen kam hinterher, zwei Männer auf dem Kutschbock, zwei auf Säcken im Wagen. Riesenhafte Kakteenzäune verbargen Gärten mit Olivenbäumen und unbearbeiteten Gemüsebeeten. Zwei Frauen, ihre Haare unter einem Kopftuch verborgen, hackten Rinnen in den trockenen Boden. Sie winkten, sie lachten. 
Vorbei an den Gärten konnte man in der Ferne eine Hotelanlage erkennen. Sie war eine von einer hohen Mauer umgebene Oase mit riesigen Palmen, lag da mitten in der Landschaft, mit Tor und Einfahrt, trutzig, unter Verschluss. Der Weg schlängelte sich an Steinhaufen und einem Haus mit einer riesigen Satellitenanlage und einem Antennenmasten vorbei. Über der Tür des Hauses hing eine Wolldecke.
 

Als sie den Gipfel einer Anhöhe erreichten, entrollte sich vor ihnen eine kleine Ebene mit einem Fußballfeld und das Dorf dahinter war auf einmal nicht mehr so weit weg. Der steinige Weg meanderte in die weit auslaufende Senke hinein und stieg dann zu den ersten Häuserreihen in der Ferne hin. Auf dem Fußballplatz, der eher ein Bolzplatz war, spielten Kinder. Es waren Jungen. Zwanzig vielleicht, vielleicht mehr. Das rote Ding, das von weitem wie ein ovaler Plastikklumpen aussah, war ein Ball. Die Luft war raus. Es war schwierig damit ordentlich zu schießen, aber es schien die Gruppe nicht weiter an ihrem Spiel zu hindern. 
Der Weg gabelte sich plötzlich. Nach rechts ging es weiter auf den Ort zu, der linke Pfad, ein wenig schmäler, führte am Fußballplatz entlang nach hinten und wohl wieder im großen Bogen dorthin zurück, von wo sie aufgebrochen waren. Die Sonne stand schon tief in ihrem Rücken.
Es ist der 31. Dezember. Ein Feiertag, dachte die Frau, da bereiten sich die Eltern auf den langen Abend mit Familie und Freunden vor, in der lauen Abendluft genießen die Kinder den freien Tag. Nachher werden sie staubig nach Hause kommen. Sie werden zusammen essen. Vielleicht werden sie Spiele spielen, oder tanzen. Sie würde gerne wissen, wie die Familien das Neujahrsfest feiern. Sicherlich hatten sie eine Torte gekauft oder selbst gebacken. Sicherlich würde alles sehr festlich sein. Ob die Kinder hier direkt im Ort in die Schule gingen? Vielleicht könnte sie eines der Kinder ausfragen. 
An einer Stelle näherte sich der Pfad dem Platz, dort könnte sie stehen bleiben und dem Spiel zusehen und vielleicht den einen oder anderen Jungen in ein Gespräch verwickeln.
Der Mann beschleunigte seine Schritte und bog nach links ab.
"Es wird bald dunkel, das ist mir zu ungewiss!", rief er.
"Ach, komm, in dem Ort ist bestimmt ein Gasthof, eine Teestube, ich bin neugierig."
"Du kannst ja gehen," sagte er, "wenn du unbedingt willst, ich gehe zurück!" 
Ungläubig schaute sie ihn an: "Das meinst du doch nicht im Ernst?"
"Doch!", sagte er freundlich, "Da ist nichts, glaub mir, ein kleiner Flecken, nicht einmal ein Markt!"
Ungehalten stöhnte sie auf: "Woher willst du denn das wissen? Ich sehe eine Moschee! Das sieht doch verlockend aus!"
Er ließ sich von seinem Vorhaben nicht abbringen, langsam folgte er dem Pfad nach links. Während des Gesprächs hatten sich aus der Gruppe der spielenden Kinder einige gelöst und waren über den Platz herüber zum Weg gekommen. Sie rannten oder hüpften, sie riefen etwas, sie schrien. Einer, in zerlumpter Hose mit einem viel zu großen T-Shirt, dessen Säume aufgelöst waren, kam auf sie zu. Er hatte eine schwarze Maske aus zerfleddertem Pappmaschee in der Hand, hielt sie sich vor das Gesicht, sprang wild gestikulierend vor ihr auf und ab und schrie etwas auf Arabisch. Ein Neujahrsbrauch, fuhr es ihr durch den Kopf. Trick or Treat. Wie dumm, sie hatte nichts dabei, gar nichts, keine Süßigkeiten, kein Kleingeld, keine Kugelschreiber. Nichts, was sie dem Jungen hätte geben können. Nur das Handy und die Scheckkarte in der Handtasche, ein Taschentuch und einige Prospekte von Restaurants in Marrakesch.
Sie sah sich nach ihrem Mann um, der war schon weiter gegangen, langsam, beständig. Er hatte das Kleingeld. Warum blieb er nicht stehen und wartete? 
Der Junge rief etwas, er sprang auf und ab und stieß bedrohliche Laute aus. Eine peinliche Situation, dachte die Frau, lächelte freundlich und sagte entschlossen: "Merci!" In diesem Augenblick wandte sich der Junge zu seinen Kameraden um und so als wolle er ihnen von seinem Misserfolg berichten, schrie er ihnen etwas zu. Darauf johlten sie und rannten alle heran. Sie versammelten sich in lockerer Gruppierung um die Frau herum. Ihr Kreis wurde immer enger. Sie fragte, ob sie Französisch sprächen. Sie erhielt nur Lachen und Pfeifen als Antwort. Häme? Aber warum. Weil sie dem Jungen für seinen kurzen Auftritt mit der Maske nichts gegeben hatte? Sie hörte einen einzelnen Pfiff, dann einen Schrei. Der kaputte rote Plastikball flog in hohem Bogen an ihr vorbei.
Sie hielt nach ihrem Mann Ausschau, er war beständig weitergegangen, sie sah die große, wuchtige Gestalt gegen den Himmel die Anhöhe hinaufwachsen. Er machte immer noch keinerlei Anstalten auf sie zu warten. Er hatte offensichtlich nichts bemerkt.
Wenn die Jungen auch alle etwa gleich alt zu sein schienen, zwischen zehn und zwölf, höchstens dreizehn, so waren sie doch sehr unterschiedlich an Größe, Hautfarbe und Kleidung. Auch ihre Haare waren verschieden, von schulterlang gewelltem, schwarz-glänzendem Haar, bis zum rauen, struppigen hellbraunen Krausekopf. Sie waren alle drahtig, sehnig, knochig. Selbst die größeren gingen ihr kaum bis zur Schulter. Kinder. Von Feiertagsoutfit war nichts zu sehen, sie trugen zerlumpte Klamotten, teils abgetragene, viel zu große Hosen ohne Gürtel und Knöpfen, die Reißverschlüsse herausgerissen, offene Nähte. Aufgerissene Hemden oder T-Shirts, mit verblichenen Aufdrucken. Zerschlissene Turnschuhe, Lederschuhe, Stiefel. Gesichter, Arme und Hände waren ebenso wie die Kleidung durch das Spiel auf dem Feld mit Staub und erdigem Schmutz übersät. 

Es war ein malerisches Bild, ein Bunt mit einer sanften Patina, in rötliches Braun getaucht, wie der Boden, darüber der sich verdunkelnde tiefblaue Himmel. Wäre nicht dieses hämische Johlen gewesen, sie hätte die Bande für einen etwas wilden aber keineswegs unsympathischen Haufen gehalten. Sie hätte innerlich gejubelt aus Freude über dieses eindrucksvolle, farbenprächtige Bild. Sie hätte die Möglichkeit, mit ihnen reden zu können, mit Begeisterung ergriffen.
Jetzt war sie gehemmt, verunsichert. 
Ein Junge, der älter wirkte als die anderen und ihr gleich durch seine faltige, verhärmte Haut aufgefallen war, rief einen weiter abseits stehenden Jungen herbei. Er wartete auf ihn und stieß ihn dann vor sich her in den Kreis. Während sie das sonderbare Duo herannahen sah, fing sie Blick und Mienenspiel des größeren Jungen auf. Sie hörte, wie er, indem er sich wieder hinter dem anderen zu verstecken versuchte, mit aggressivem Unterton rief: „On va les t... tous, les Francais! On va les tous t...!“
Verwirrt schaute die Frau in die Runde. Hatte sie richtig gehört? War sie durch das klangliche Durcheinander der vielen fremden Laute einer Täuschung erlegen? Hatte sie arabischen Klängen die Bedeutung von französischen Worten zugeordnet? 
Welches Spiel begann ihr Verstand mit ihr zu spielen? 
„On va les t...“ 
Mein Gott, dachte sie, « Wir werden alle umbringen, wir werden sie alle töten! » 
Wie war es ihr gelungen ausgerechnet diesen Satz aus dem Klanggewirr, das sie umgab, zu entschlüsseln? Es musste ein Irrtum sein! Sie suchte den Jungen, der ihn gerufen hatte, konnte ihn aber nicht mehr entdecken. Die Gruppe, die sich jetzt vor, neben und hinter ihr aufbaute, hatte ihn verschluckt. Sie drehte sich im Kreis. Sie bemerkte, dass sie unruhig wurde. Sie war umringt und konnte niemals alle gleichzeitig im Blick haben. Ihre Kraft schien zu schwinden, ihre Selbstsicherheit schien sich aufzulösen. Als sie „Hallo!“ zu einem Jungen vor sich sagte, da sah sie, dass er sich kopfschüttelnd abwandte und als sie ihrer Stimme nachlauschte, da merkte sie, dass sie schrill-krächzend und zitterig gewesen war.
Sie spürte, dass nichts so war, wie sie es erwartet hatte, wie sie es gewohnt war.Sie versuchte ihren Weg wieder aufzunehmen. Ganz ruhig, einfach weitergehen, langsam den Abstand zwischen sich und ihrem Mann wieder verringern! Die Jungen riefen sich gegenseitig etwas zu, gestikulierten, sie winkten andere, weiter weg stehende heran. Es wurden immer mehr. Der Kreis wurde immer enger. Ein Weitergehen war nicht möglich. Der Weg vor ihr war verstellt. Die Mienen der Jungen waren fragend, abwartend. Es war, als versuchten sie sich gegenseitig zu positionieren. Wer war in diesem Rudel der Anführer?Suchend sah sie sich um. Da waren keine Erwachsenen, keine Passanten, nicht einmal ein Eselkarren. Weit und breit war niemand zu sehen, außer der langsam kleiner werdenden Silhouette ihres Mannes, der unverdrossen weiter den Heimweg verfolgte. 
Ihre Gedanken überschlugen sich. Dort lag das mit einem Mal gar nicht mehr verlockende Dorf mit dem grau-grauen Aufriss der Häuser vor dem düsterer werdenden Hintergrund, dann irgendwo weit im Südwesten Marrakesch, nur über eine halbstündige Autofahrt zu erreichen. Gleich hier hinter der Anhöhe waren die von Mauern umgebenen Unterkünfte der Touristen, die Villen und Hotels, und auch das zauberhaft pseudo-orientalische Schlösschen, in welchem sie seit einigen Tagen wohnte. Sie selber war in der Einöde, mitten im Palmenhain, außerhalb der Mauern, deren Videoüberwachung das Innere nicht das Äußere schützte. Außer Rufweite. Allein.
Die über das Feld huschenden schwarzen Schatten der Kinder verdichteten das Bild.Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie sich in einem Kreis von Kindern befand, denen die Armut den Ton diktierte. Die bitterlichste Armut war die, die genau am Rande des Reichtums dahinvegetierte. Armut, die dem äußersten Reichtum der Oase, mit dem täglich bewässerten Golfplatz hinter den Mauern hautnah ausgesetzt war, wo der nachmittägliche Golfkurs für einen Touristen so viel kostete wie der Lohn, den der Vater für die Familie in einem Monat nicht erarbeiteten konnte. 

Reichtum, der die bloße Gegenwart dieser Kinder verachtete, der sie wie widerliche Schmeißfliegen wegscheuchte, wenn sie aus Neugierde vielleicht zu nah an die Mauer gegangen waren, oder versucht hatten durch die Zäune, die Tore zu spähen um zu sehen, was sich denn dort zutrug, an dem verbotenen Ort. Reichtum, der sich in ihre Umwelt hineinpflanzte und die Werte verschob, der ihnen die Würde nahm, bevor sie noch angefangen hatten die Welt als achtbare Größe und sich selbst als liebenswerte Wesen zu erkennen.Die Freiheit und Weite des Horizonts standen ihnen zur Verfügung. Darin jedoch war nichts als die armselige Perspektive der wasserlosen Wüstenei, und ein Ball aus Plastik, aus dem die Luft raus war.
Die Frau spürte das Gefühl von Unbehagen anwachsen. Dazu Unsicherheit. Sie würde nicht wegrennen, sie würde ihnen fest in die Augen schauen. Sie würde versuchen mit ihnen zu reden. Das Gespräch musste gelingen! Die wenigen Worte in französischer Sprache, die sie gehört hatte, waren der Beweis, dass mindestens einer von ihnen dieser Sprache mächtig war. Und selbst wenn sie ihre Worte nicht gänzlich verstanden, so würden sie durch die ruhige Rede Vertrauen gewinnen, einsichtig werden, vielleicht das Interesse an ihr verlieren und sich wieder ihrem Spiel zuwenden und die Unterbrechung vergessen. 
Doch als sie anfing zu sprechen, als sie langsam erklärte, dass sie eine Touristin aus Deutschland war, die sich nur für einige Tage in Marokko aufhielt, dass es ein sehr schönes Land war, das sie gerne noch näher kennen lernen würde: „Je voudrais savoir beaucoup plus de votre beau pays!“, da sah sie in verständnislos grinsende Gesichter.Das kann nicht sein, dachte sie. Sie hatte sich doch gerade noch wohl gefühlt, sicher. Keinen Augenblick hatte sie das Gefühl gehabt nicht in Sicherheit zu sein. Mit Schaudern dachte sie an den Überfall einer befreundeten Familie in New York, die man in eine Seitengasse abgedrängt hatte um ihnen die Kamera abzunehmen und um sie ohne Schuhe und Tasche wieder zu entlassen. Oder an die Berichte, die sie über Touristen in Russland gelesen hatte, die verloren gingen und Wochen später halbverwest und nackt auf Abfallhaufen wiedergefunden worden waren. Hier war es nicht so. Sie war hier bis jetzt nur freundlichen Menschen begegnet. Sie schaute dem nächsten Kind in die Augen, zwinkerte aufmunternd und machte sich wieder auf den Weg, Schritt für Schritt, in die Richtung, die ihr Mann genommen hatte. Von ihm war nichts mehr zu sehen. 
Sie redete weiter, in bewusst heiterem, nebensächlichen Ton. Sie versuchte gelassen zu sein, gelassen zu erzählen. Sie erzählte, dass die Kinder in Deutschland auch Fußball spielten, sie erwähnte „Bayern München!“ 
Ein "Hoho" war zu hören: "Ah! Oui, oui!" 
Klatschen, Johlen, das war alles.Warum gelang es ihr nicht Sympathie zu schaffen, sich verständlich zu machen? Selbst ihre Stimme, der sie ganz bewusst wieder einen ruhigen, freundlichen Ton gegeben hatte, wenn auch bemüht, hatte keinerlei Eindruck hinterlassen, ihr Versuch, den Kindern in die Augen zu sehen, Kontakt aufzunehmen, sich als Person, als freundliche Erwachsene darzustellen war im Nichts versandet. Keines der Signale, die sie aussandte, wurde erkannt. Sie fühlte plötzlich absolute Ohnmacht. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie in ein Bühnenstück, mit einem vorgefassten, fertigen Drehbuch geraten, mitten auf die Bühne, hinein in ein Stück, das alle kannten, nur sie nicht. All ihr Bemühen, all ihre verzweifelten Versuche sich durch Reden zu retten, waren ein lächerliches, sinnloses Unterfangen. Gedanken begannen wirr durch ihren Kopf zu rasen. 
Was war hier nur falsch gelaufen? An welchem Punkt war der Umschwung gewesen? War die Aggression von Anfang an da gewesen? War ihr Spaziergang als westliche Frau, hier durch diese Einöde, im Niemandsland zwischen den Ferienvillen und dem Dorf, schon Anlass genug für diesen Angriff? Konnte man das Abwenden ihres Mannes so deuten, dass er sie bewusst zurück lassen wollte, dass er sie nicht beschützen wollte, weil es sich nicht lohnte, sie zu beschützen. Er überließ sie ihnen, er hatte sie ausgesetzt? 
Hatte die Tatsache, dass sie eine unverhüllte, westliche Frau war, einen längst schwelenden Hass zum Entflammen gebracht? Ihre Gedanken begannen zu schlingern. Sie durfte nicht die Haltung verlieren. Sie musste zeigen, dass sie arglos und freundlich war. Jemand, der die Aggression nicht verdiente, jemand, der sich durch ihre Angriffe nicht aus der Fassung bringen ließ.
In diesem Augenblick spürte sie, dass ihr jemand von hinten an den Griff der Handtasche fasste. Sie drehte sich erschrocken um. Die Jungs hinter ihr hüpften mit hochgereckten Armen und affigen Bewegungen hin und her und auf und ab, so dass sie nicht ausmachen konnte, wer von ihnen es gewesen war. Da kam die nächste Berührung. Dann noch eine. Am Ärmel, an der Jacke, an der Tasche. Sie drehte sich hastig im Kreis und schrie : "Ne me touchez pas, je vous dis, ne me touchez pas!" Der Kreis um sie lockerte sich nur für einen winzigen Augenblick, dann waberten sie wieder enger heran. Unter dem Schutz des jeweilig anderen, kamen sie wieder näher, bis sich ihr Mut selbstständig machte, und sie wieder nach ihr griffen. Nach den Falten ihrer Kleidung, nach der Tasche. Ein Zupfen, ein kleines Ziehen, am Ärmel, am Saum der Jacke. Es tat nicht weh. Sie waren nur eben da diese kleinen Berührungen, von hinten, an ihrem Halstuch, an ihrem Haar, am Jackenkragen, von der Seite an ihrem Arm, an der Handtasche. Es waren viele.
Sie wurde wütend und mit einem Mal spürte sie ein für sie völlig ungewohntes Gefühl: Angst.
"Qu'est-ce que c'est que vous voulez?"- Was wollt Ihr!- „Je vous ai déjà dis - je n’ai rien, absolument rien!“ Ich habe es euch doch gesagt, ich habe nichts, absolut nichts! „C’est dommage!“ Schade! - rief sie und als sie wieder am Arm berührt wurde, verlor sie die Fassung und schlug nach der Hand des Jungen. 
Die Situation schien zu eskalieren. 
Sie kamen näher, ganz nahe.
„Je vous prie de me laisser!“, schrie sie hysterisch, „Ne me touchez pas!“ 
Dann riss sie ihr Handy aus der Jackentasche, hielt es hoch und rief, "Je vais appeler la police!" - Ich werde die Polizei anrufen! -
Sie spürte, wie sich Tränen hinter ihren Augäpfeln aufstauten, was war das nur für eine Situation? Diese hysterische, mit schriller Stimme hervorgestoßene Drohung hatte eine unerwartete Wirkung: Sie erzeugte ausufernde Heiterkeit! Alle kamen nach vorne, sie klatschten in die Hände und während ihr Mund zu lachen schien, so waren ihre Blicke kalt. Und wenn sie auch nichts verstand, so hörte sie doch, dass es Schmährufe waren, voller Verhöhnung und Aggression. Sie spürte, dass sie zu rufen schienen. „Ah, die Polizei willst du holen! Die Polizei! Ja, super! Wofür denn, du dumme Kuh! Was haben wir dir denn getan? Was wirfst du uns denn vor? Ja, hol sie doch, die Polizei, mach doch, mach doch, nur zu!“
Voll daneben. Völlig überzogen. Ich habe lächerlich und hysterisch reagiert, dachte sie noch, zwing dich zum ruhigen Atmen. Gehe einfach um die Gruppe herum, beginne zu gehen, schau niemandem mehr in die Augen, und beginne zu gehen. Sie machte einige Schritte, versuchte gerade neue Entschlossenheit in ihre Haltung zu legen, als sie an der Schulter festgehalten wurde, und als sie versuchte die Hand abzuschütteln, da griff eine andere Hand nach ihrem Ellbogen und hielt sie fest.Gedankenfetzen durchzuckten sie, sie sah sich rennen, sah sich stolpern, hörte sich winseln, spürte, wie Zähne sich in ihren Körper bohrten, an ihm rissen und sie zerfleischten. Sie waren wie ein Rudel junger Wölfe, die ihre plötzliche Macht an ihr übten und nicht loslassen wollten. 
Sie spürte Wut und Tränen wegen ihrer Unfähigkeit sich bemerkbar zu machen, wegen ihrer Machtlosigkeit, ihrer kraftlosen Lächerlichkeit. Angst, weil sie nicht wusste, wie lang sie noch aufrecht weiter gehen würde, bis sie ins Straucheln geriete und wirklich ausgeliefert wäre.
Da hörte sie in der Ferne ein Rufen, es war eine kreischende, männliche Stimme. 
Ein Jugendlicher, kaum der Pubertät entwachsen, kam schreiend auf die Gruppe zugerannt. Er war völlig außer sich, er war atemlos. „Madame, Madame!“, schrie er, „Madame, allez, allez!“ Der junge Mann schlug nach den Kindern, er versuchte einen nach dem anderen gewaltsam wegzuscheuchen. Aber es waren so viele! Sie fühlte, wie die Aussichtslosigkeit ihre Kehle zuschnürte, da sah sie einen großen Stein in der Hand des Jungen, und sah, wie er brüllend mit dem Stein nach den Körpern der Kinder schlug. 
„Non, non!“, rief sie und gab ihm mit Gesten zu verstehen, dass er den Stein wegwerfen solle, „Laissez la pierre! Non, pas la pierre ! » 
Alle schrieen, die Kinder schrieen, der junge Mann schrie, es war ein wildes Chaos, die Berührungen hörten auf, der Kreis öffnete sich, die Kinder wichen zurück. 
Der junge Mann war völlig außer sich, Schweiß strömte über sein Gesicht, er kämpfte mit kräftigen Schlägen gegen die Kinder, die sich wütend gegen ihn wandten.
„Je vous remercie beaucoup, mais pas la pierre, pas avec la pierre !“ - Nicht mit dem Stein!-, hörte sie sich rufen, aber sie sah, dass es einzig seine wehrhafte Bedrohlichkeit war, die den Jungen Respekt einflößte und sie zum Rückzug zwang. 
Mit zitternden Knien nahm sie ihren Weg wieder auf. Schritt für Schritt, mit erzwungener Gelassenheit ging sie los, ohne sich noch einmal umzudrehen und hörte noch lange das Kreischen, Johlen, das Pfeifen und Schimpfen.
„Du hast dich doch entschlossen keine Teepause zu machen! Da bin ich aber froh!“, sagte ihr Mann, als sie ihn erreichte und als sie ihm nicht antwortete, fügte er mit spöttischem Unterton hinzu, „Die hast du ja mächtig beeindruckt, meine Liebe!“
Nach einer Weile blieb er stehen und wandte sich um: „Hast du die Gräben da hinten bemerkt? Sie verlegen Wasserrohre und Stromleitungen, ich glaube, das Fußballfeld wird einer neuen Anlage weichen.“ Ihre Knie zitterten immer noch. Nein, die Gräben hatte sie nicht bemerkt.

Donnerstag, 14. Februar 2008

...ergänzende Gedanken zur Einführung des Blogs.

Aber nicht nur im Bildhaften. Auch in den Gesprächen schwingen Zwischentöne mit. Die Hoffnung, die Perspektiven, die Zukunftsorientierung einer sich im Eilschritt verändernden Gesellschaft, die von einem jungen König neu geschaffenen Wirklichkeiten. Diese scheinen aber noch in der Luft zu hängen wie unsicher pendelnde Gewichte an Kranseilen, die noch keinen festen Boden gefunden haben um einzurasten in einer Form, die fest und von Dauer ist.
Strom überall seit 2002. Auch auf dem Land in den Dörfern. Die Menschen mit offenem Gesicht, freundlich, die Augen immer mit lächelndem Gruß... il n'y a pas de problèmes - keine Krankenversicherung, kein Rentensystem, keine staatliche Altersvorsorge, jeder muss schauen, wo er bleibt, wenn die Familie nicht helfen kann, dann tun es die Nachbarn, man muss füreinander da sein.Armut prallt auf Reichtum, aber das war schon immer so, Modernes prallt auf Traditionelles, die Medienwelt auf den ruhigen Takt der Zeitlosigkeit.
...was wird und was ist und was war...
In und um Marrakesch ist ein geplanter Bauboom überall sichtbar, gesteuerter Städtebau, mehr als 35ooo neue Wohnhäuser und Anlagen im Bau! Die Immobilienpreise sind um das Zehnfache gestiegen. Woher wird das Wasser kommen, woher der Strom? Noch gibt es fast täglich einen Zusammenbruch der Stromversorgung. Die Golfplätze müssen gewässert werden, die Hotelanlagen, die Villen für Hunderttausende von Gästen täglich, Tourismus hat Priorität: "Darin liegt das Potential eines gesunden Wachstums...!", mit diesen Worten versucht der Taxifahrer Abdul den Standpunkt seines Königs wiederzugeben.

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